Philosophische Gedanken

Ich bewege mich leicht schlendernd durch die Schulräumlichkeiten des Alten Gymnasiums. Ich gehe die Treppen hoch, den Schulwänden entlang und lasse meine Fingerspitzen über deren Oberfläche streifen. Ich fühle kleine und grosse Hügel, dann glatte Flächen direkt gefolgt von einer unbeschreiblich weichen Stelle, und schliesslich eine sich grob und spitzig anfühlende Wandpartie. Ich ziehe meine Hand zurück und lasse meine Augen über die von mir erfühlte Wandstelle gleiten. Es ist ein aus der Distanz geworfener Blick. Das Gefühl des nah Erlebbaren ist entfernt, denn ich sehe, aus diesem körperlichen Abstand betrachtend, keine offensichtlichen Unterschiede auf der sich vor mir präsentierenden Wandstelle, obwohl ich sie einen kurzen Moment vorher noch klar fühlte. Ich trete einen Schritt vor, und schon verschieben sich kleine Dinge. Ich nehme wahr, dass eine Stelle deutlich glatter scheint als eine andere. Ich trete noch einen Schritt heran, um zu sehen, dass der Mauermörtel unterschiedlich grosse Verwerfungen zurückgelassen hat. Ich trete noch einen Schritt näher, um fast mit dem Körper schon gegen die Wand gedrückt zu sein, um fast eins zu werden mit den Gebäudemauern, und ich entdecke so die wundervollsten Unterschiede. Klein und gross, weich und hart, spitzig und stumpf. Eine wunderbare Unterschiedlichkeit in der Beschaffenheit der Wandoberfläche eröffnet sich meinem Auge und doch sind sie alle ein Teil derselben Mauer. All dies spielt sich auf diesen,  unseren Schulwänden ab. Die Wände sind geblieben, die Schüler sind gegangen, haben diese Schule verlassen und sind dennoch gegenwärtig, denn oft haben sie diese Hallen beschritten und durchquert. Ein Teil von ihnen ist hier zu Hause, so wie ein Teil der Schule bei ihnen ein Zuhause gefunden hat. Um diese Mauer in ihren Eigenschaften erkennen zu können, müssen wir nahe herantreten, um genau zu sehen und anfassen, um genau zu fühlen, und es erschliesst sich uns eine neue Welt der Erfahrung unserer Schulgeschichte. Der Textteil des Projekts widmet sich quasi dem Nachspüren der objektiven Fakten der Schulgeschichte, wie wenn man die Wand unserer Schule betrachten würde, wohingegen die Ton- und Fotoaufnahmen Momente und Erlebnisse aufzeigen, die die menschliche Textur hör- und sichtbar machen, genau so, wie sie sich in übertragenem Sinne dem blossen Auge auf unseren Schulwänden entzieht, es sei denn, man fühlt ihrer Mauerbeschaffenheit aus der Nähe nach.

Treten wir vor, um ihren Geschichten zu horchen und um ihre Fotos zu betrachten. Schauen wir genauer hin, dann sehen wir, dass sie gar nicht so anders aussehen wie wir oder die aktuellen Schüler und Schülerinnen. Also treten wir ganz nahe, damit sie uns ihr Vermächtnis zusprechen können und uns begreifen lassen können, wie vielfältig unsere Schulgeschichte ist. Treten Sie näher und hören Sie, treten Sie näher und hören Sie! Was flüstern sie?

Martin Steiner