Flavio Cotti erinnert sich (1955-1959)

Es wäre vermessen, in einem Vorwort zu versuchen, die langjährige und verschiedenartige Geschichte des Kollegiums Sarnen, der Kantonsschule, des Internats/Externats und des Benediktinerkonvents zu bewerten. Diese Herausforderung haben Martin Steiner und Thomas Peter, beide Lehrpersonen der Kantonsschule Obwalden, in ihrem Buch mit Audio CD mit sicht- und hörbarem Erfolg gewagt. Die zahlreichen Bilder aus ganz unterschiedlichen Jahrzehnten spiegeln eine echte Erfolgsgeschichte. Sie würde die Professoren und Patres – die allermeisten sind leider schon gestorben – mit berechtigtem Stolz erfüllen.Ich beschränke mich darauf, einige Erinnerungen an die Jahre 1955 bis 1959 wieder aufleben zu lassen, jene vier Jahre, die ich im Kollegium Sarnen verbracht habe.

Ich kam nach Sarnen mit einigen Erfahrungen, die mir den Einstieg wesentlich erleichterten. Die ersten vier Jahre Gymnasium verbrachte ich als Externer im Collegio Papio in Ascona, damals von den Patres von Einsiedeln geführt: Die Benediktiner waren mir demnach schon sehr bekannt. Es folgte ein Jahr Deutschkurs im Kollegium St. Michael in Zug; da konnte ich das Leben im Internat zuerst kennen lernen und dann (mit wenigen Ausnahmen) geniessen. Der Einstieg in Sarnen gestaltete sich deshalb ganz natürlich; die Bedeutung jener Jahre war aber für mich als jungen Mann in der Pubertät eine sehr wesentliche. Ganz wichtig für mich war auch die Vertiefung der Kenntnisse der Deutschen Sprache: Ein Vorteil, der mir auch später ausserordentlich zugute kam. Die Atmosphäre, die der Jüngling in Sarnen vorfand, begleitete ihn bei allen altersbedingten Veränderungen bis zur Matura. Die Führung, die unmissverständliche Führung, oblag dem Benediktinerkonvent, den Patres. Dabei spielten natürlich der Rektor Pater Bonaventura Thommen und die Präfekten (Pater Pirmin Blättler bis zur 6. Klasse Gymnasium und dann Pater Dominik Löpfe, der spätere Abt des Klosters Muri-Gries, für die zwei Klassen Lyzeum – beide später in dramatischen Unfällen gestorben) eine besondere Rolle. Ich habe von Führung gesprochen: das Kollegium wurde straff geführt mit strengen, auch genauen zeitlichen Regeln, wie z.B. aufstehen werktags fast immer um halb sechs Uhr mit nachfolgender Messe. Die Tagesstruktur war präzise geordnet; die verantwortlichen Patres kontrollierten deren Ablauf mit absoluter Genauigkeit. Heute würden manche fragen: Ihr wart ja wie im Militär, war es nicht zu hart?

Die Antwort auf diese Frage erfolgt ganz spontan: Es war streng, aber innerhalb dieser Strenge gab es bedeutende Momente der Freiheit. Ich denke an die Kreativität, die uns bei der Gestaltung der Freizeit gewährt war: Jass, Schach, Tischtennis, Musik, Lektüre in den Kollegiräumen, Basketball in der Turnhalle, Fussball, Wanderungen im schönen Obwaldnerland mit oder ohne benediktinische Aufsicht, Schwimmen in der kurzen Sommerzeit im nicht zu kalten Wasser und Schlittschuhlaufen auf dem damals noch zeitweise winterlich-vereisten Sarnersee; aber auch Ausgang ins Dorf am Donnerstag oder am Sonntag, Teilnahme an Vorträgen und Fernsehsendungen im Metzgernsaal, Filme im nahen Kino Seefeld und, seltener, Besuche in Luzern, die mit Konzert und Theater der Erweiterung unserer kulturellen Erfahrung dienten.

Dazu kam ab der 6. Klasse für die grosse Mehrheit der Studenten die Subsilvania, die rote Studentenmütze und das rot-weiss-grüne Band, der von Vereinsfahne und Gesängen begleitete Marsch vom Kollegium zum Hotel Metzgern, die wöchentlichen Treffen und natürlich der Stammbetrieb mit mässigem Bierkonsum.

Den Benediktinerpatres gelang es, die eindeutige Erziehungsstrenge mit Freiräumen zu verbinden, in welchen sich die autonome Gestaltungskraft der wachsenden, jungen Knaben entwickeln konnte.

Diese ausgewogene Organisation des Kollegilebens war auch in den persönlichen Beziehungen der Studenten mit den Patres zu erleben. Natürlich spielte hier der Charakter des einzelnen Paters, aber auch des einzelnen Studenten, eine wichtige Rolle. Ich stelle fest, dass diese Kontakte ganz auf Dialog ausgerichtet waren, und dieser Gedankenaustausch bleibt für mich unvergesslich. Die Strenge schloss in den meisten Fällen den Dialog nicht aus, genau so wenig wie sie auch eine durchaus offene Wahrnehmung der Religion zuliess. Das sehr moderne Werk des belgischen Theologen Gustave Thils „Theologie der irdischen Wirklichkeiten“ lehrte uns die „Deklerikalisierung“ des öffentlichen Lebens, „damit die Kirche ihre Aufgabe in den Seelen und in der Welt ganz erfüllen könne, ohne genötigt zu sein, ihre Tätigkeit an juristische, wirtschaftliche oder politische Formen zu binden, die vergänglich, ja zeitbestimmt sind.“

Die konservative Tradition des Kollegiums hinderte demnach die Patres nicht, den offenen Dialog zu fördern und den Schülern eine Bildung anzubieten, die im Einklang mit der gesellschaftlichen Öffnung der Nachkriegszeit stand und bei aller katholischen Verbundenheit eine gewisse helvetische Distanz zur römischen Kurie zeigte.

In einem Wort: die Patres lebten für uns, für unsere Erziehung. Ich darf auf Grund meiner Erfahrung sagen, dass sie eine absolut zentrale Rolle für unseren menschlichen Werdegang gespielt haben. Sie liebten uns, das Kollegium war ihre zweite Berufung. An alle verstorbenen Patres denke ich in tiefer Dankbarkeit zurück; neben den schon Erwähnten auch an Superior Pater Beda, Pater Hugo, Pater Rupert, Pater Raphael, Pater Leodegar, Pater Robert, Père Michel, Pater Gerold, Pater Johannes, Pater Leo, Pater Pius, Pater Ludwig, Pater Notker, Pater Ivo, Pater Maurus, Pater Fintan, Pater Hildebrand und an den weltlichen Professor Herrn Josef von Rotz, von uns Studenten „Cowboy“ genannt. Besonders denke ich auch an die noch lebenden Pater Bonifaz und Professor Alfred Huber, mit dem mich auch nach meinem Studium eine herzliche und politische Freundschaft verband.

Und ich denke mit grosser Emotion an die Klassenfreunde (nur sehr wenige haben uns schon verlassen). Wir treffen uns regelmässig, nach der Pensionierung häufiger als früher. Jedes Treffen ist von der alten, herzlichen Kameradschaft geprägt. Im Jahre 2009 feierten wir auf dem Flüeli-Ranft die 50-jährige Matura. Die Zeit vergeht, etwas Wehmut war nicht zu vermeiden. Aber es herrschte Freude, denn alle waren sich im Klaren: in Sarnen haben wir eine wunderbare Jugendzeit erlebt, in Sarnen sind wir in einer Atmosphäre bescheidener, aber echter, tiefer Menschlichkeit reif geworden. Ich bin sicher, dass diese Gefühle von den allermeisten Schülern der Benediktiner des Klosters Muri-Gries geteilt werden.

Den Schülerinnen und Schülern der heutigen Kantonsschule wünsche ich, bei allen veränderten Rahmenbedingungen, ebenfalls viel Freude und Erfolg.

Flavio Cotti, September 2010